Prof. Dr Walter Nitsch

(1933 - 2016)

Technische Chemie

Trauerrede von Präsident Prof. Wolfgang A. Herrmann, 5. Februar 2016

 – Es gilt das gesprochene Wort –

Was auf dem Sterbebildchen steht, passt so gut zu Walter Nitsch: Sein schönstes Denkmal lebt fortan in den Herzen jener die ihn kannten.

Als Walter Nitsch im nordböhmischen Komotau am südlichen Fuße des Erzgebirges geboren wurde, in der Tschechoslowakischen Republik, hatten in Deutschland gerade die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Man war auf dem Weg zur Diktatur. Just an diesem Tag wurden die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt (Reichstagsbrandverordnung). Was kam, hat auch der Kindheit und frühen Jugend von Walter Nitsch Schmerzen zugefügt, am Ende aber seine Freiheitsliebe geweckt und gestärkt. Walter Nitsch lernte früh, selbst zu denken und nicht andere für sich denken zu lassen. Wir kannten ihn als eigenständigen Kopf, dessen intellektuelle Brillanz sich in der fortgesetzten, akribischen Auseinandersetzung mit komplexen wissenschaftlichen Fragestellungen bewähren konnte. Was an Grenzflächen zwischen flüssigen Phasen passiert, in der Überlagerung von kinetischen und Reaktionsbeiträgen, das hat der konsequente Experimentalchemiker, mathematisch fundiert, in ein theoretisches Konzept gekleidet. Von der Fachwelt zunächst mit Skepsis aufgenommen, hat sich sein Ansatz rasch durchgesetzt und dem 32-jährigen Schüler von Franz Patat zum Karl Winnacker-Stipendium verholfen, das erste, das einem Technischen Chemiker zuerkannt wurde.

Bevor Walter Nitsch im nordböhmischen Brüx unweit seiner Geburtsstadt Komotau in die Volksschule kam, war das Sudetenland vom Deutschen Reich annektiert worden. Die Oberschule in Brüx musste er nach zwei Jahren verlassen, weil die Bevölkerung mit Kriegsende aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde (Benesch-Dekrete). So kam er nach Magdeburg, in die Otto Guericke-Schule, wieder nur zwei Jahre, bis zur Flucht aus der russischen Besatzungszone. Neue Wurzeln konnte die Familie im Allgäu schlagen (1947); in Kempten schloss Walter Nitsch die Oberschule 1951 mit dem Abitur ab. Zunächst Hilfsarbeiter in der Papierfabrik Seltmann und in den Labors der Farbwerke Hoechst, nahm er das Chemiestudium in Innsbruck auf, diplomierte dort 1956 mit dem »Doktorandum« und konnte dann die Doktorarbeit bei Erika Cremer in der Physikalischen Chemie anfertigen. Fortan hatte es ihm die Kinetik angetan, die er in Innsbruck am Beispiel der Aufbau- und Abbaureaktion von Calciumcarbonat erlernt hatte.

Der Weg führte ihn sodann als Assistent zu Franz Patat nach München, dem Groß- meister der Technischen Chemie. Hier, an der Technischen Hochschule, entwickelte er seine eigene wissenschaftliche Handschrift und wurde 1966 habilitiert. Dieser Arbeit wurde zu seinem Lebensprogramm als Forscher: »Die Kinetik von Grenzflächenreaktionen und ihre Bedeutung für die Stoffübertragung zwischen flüssigen Phasen«.

Der Privatdozent ließ sich zwei Jahre in die Forschungslabors der Farbwerke Hoechst beurlauben, um zu lernen, wie man Stoffumwandlungen der organischen Chemie vom Labor in den technischen Maßstab überträgt. Wieder standen reaktionskinetische Betrachtungen im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeiten. Zurückgekehrt an unsere »liebe, alte TH« (1971), wurde er apl. Professor, und bald darauf Kommissarius des Lehrstuhls für Mineralölchemie (Spengler). Rufe nach Stuttgart und Berlin hatte er abgelehnt. 1973 erhielt er den Dechema-Preis.

Die Nachfolge seines Lehrers Franz Patat trat Walter Nitsch 1977 an. Zwischenzeitlich waren an der TU zwei neue Lehrstühle geschaffen worden, schrittweise besetzt mit Kurt Dialer (1970) und Robert Kerber (1973), der hier die Makromolekulare Chemie in Gang setzte. Bei dieser Aufstellung, profilbildend für die Chemie unserer Universität, ist es geblieben. 2007 hat dann der heutige Dekan Kai-Olaf Hinrichsen die Nachfolge von Walter Nitsch angetreten. Die Fakultät für Chemie hat derzeit 40 Professoren, weitere folgen in diesem Jahr; sie bildet nicht nur Chemiker aus, sondern auch Chemieingenieure.

Diese Expansion, verbunden mit wesentlichen Neubau-, Sanierungs- und Infrastrukturmaßnahmen in der Größenordnung von weit über 100 Millionen Euro, hat Walter Nitsch noch als interessierten Emeritus besonders gefreut. In meiner aktiven Zeit in der Anorganischen Chemie und später in meiner neuen Aufgabe ist er mir zum Freund geworden. Immer wieder trafen wir uns in seinem Emeritenzimmer, wo dann zugunsten einer guten Zigarre das vom Präsidenten zwangsweise erlassene hochschulweite Rauchverbot kurzfristig außer Kraft gesetzt wurde. Wie viel und ausgelassen haben wir da miteinander gelacht, und wie sehr mochten wir uns! Umso mehr vermisste ich ihn, als sich der Schatten seiner Krankheit über den langjährigen Freund legte.

1990 war er mir als Dekan unserer Fakultät gefolgt, als der er sich mit einer wichtigen Denkschrift für die Neue Forschungs-Neutronenquelle FRM II einsetzte (mit Dietrich und Gläser). Beim Richtfest 1998 war er dabei.

Walter Nitsch bleibt uns nicht nur als heller Kopf, sondern als heller Charakter mit aufrechtem Gang in Erinnerung. Seine Kollegen und Schüler haben an ihm erfahren, dass Urteilskraft und Augenmaß zusammengehören, so wie auch Ernsthaftigkeit und Fröhlichkeit, Ehrgeiz und Gelassenheit, Leben und Leben lassen – ganz im Geiste der Liberalitas Bavariae, die er in seiner neuen bayerischen Heimat verinnerlicht hatte. Wir empfehlen ihn jetzt der Gnade Gottes an. Requiescat in pace.